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Eine Lehrstunde

 


Guten Morgen!

Bitte setzen!

Ich bin die Vertretung!

Sabine, kommen Sie doch bitte hierher nach vorne. Hier ist noch Platz.

Ich unterrichte eigentlich ganz unten in der Elektroabteilung und soll Ihnen heute die Jakob-Texte erklären.

Das kann ich nicht. Ich schreibe keine Briefe, ich schreibe keine Romane. Na gut, ich hab schon mal ein Programm geschrieben, doch die Jakob-Texte kann ich Ihnen nicht erklären. Sie erfassten mich wie ein Strudel aus der Tiefe meiner Seele und quollen heraus ans Tageslicht, endlich befreit von der die Seele quälenden Enge.

Fragen Sie mich also nicht.

Fragen Sie Ihre Mutter, fragen Sie Ihren Vater und fragen Sie Ihre Geschwister, doch fragen Sie mich bitte nicht!

Fragen Sie Ihren Bischof, fragen Sie Ihren Priester und fragen Sie Ihre Seele, doch mich fragen Sie bitte, bitte nicht.

Dann fragen Sie also Ihren Nachbarn, fragen Sie Ihren Arbeitskollegen und fragen Sie Ihre Freundin oder den Freund. Mich jedoch fragen Sie bitte nicht! Noch nicht!

Ich kann versuchen, Ihnen etwas über die Menschenwürde zu erzählen, so , wie wir sie da unten in der Elektroabteilung verstehen.

Was ist das eigentlich, die Würde? Wir kennen diese von den Würdenträgern, den dick vermummten, die hoch oben thronen, denen wir Ehre entbieten und die wir vor jeglicher Gefahr zu schützen bereit sind. Entfernen wir die Vermummung oder Verbrämung, so erhalten wir das nackte Symbol für die Würde, das Symbol für eine gute Eigenschaft. Sie ist herausgehoben aus dem täglichen Dunst normalen Seins und es lohnt sich, sie zu beschützen, weil sie uns Richtschnur, Anregung und Maßstab sein kann und ist.

Beginnen wir, um die Grundlage menschlicher Würden zu erfassen, mit dem Anfang unseres Seins. Dazu legen wir all den Pomp menschlicher Würden ab. Wir legen ab den Talar, die Robe, die Tiara, den Thron und die Macht. Wir legen alles ab, bis wir nackt, gleichsam wie Adam, vor unserem Schöpfer stehen, mutterseelenallein, ganz allein vor Ihm, der uns gerade erschaffen hat! Und dann fragst Du Ihn, was es denn auf sich hat mit Deiner Würde. Und Er wird Dir wahrscheinlich antworten, dass die Würde darin liegt, dass Er Dir das Leben geschenkt hat, dieses einzigartige einmalige Angebot an Dich, um Dich zu erkennen, Dich zu begreifen und Dich zu gestalten. "Einmalig!" wird Er sagen und dann auf mich Elektriker zeigen und lächelnd bemerken, dass, wenn Er Dein Leben wie eine Wohnzimmerlampe gestaltet hätte, die man beliebig ein- und ausschalten könne, dass dann Dein Leben keine Würde hätte, denn jeder, der den Schalter bediente, wäre Herr über Dich und Du hättest keine Würde mehr. In dieser Einmaligkeit und Einzigartigkkeit also liegt die Würde Deines Lebens! Dieses einmalige Leben kannst Du gestalten und prägen, vergeuden und wegwerfen. Du allein hast die Verantwortung! Es gehört Dir! Es ist nicht gefahrlos! Du wirst Schmerz und Pein spüren, Hitze und Kälte fühlen, Freude und Verzweiflung empfinden, aber dieses Leben gehört Dir! Dir allein!

Das also ist die erste elementare Würde des Menschen, dass er lebt und leben darf!

Nun Adam lebte zwar gut versorgt im Paradies, doch ein leises Sehnen prägte mehr und mehr sein Gemüt. Sein Schöpfer bemerkte das, schuf zu seiner Stütze Eva und gab sie ihm als Frau. Hochzeit nennt man so etwas bei VW in Wolfsburg, wo ich gerade meinen neuen Passat abgeholt habe. Man versteht dort darunter die Verbindung der Karosserie mit der Antriebseinheit! Und Eva verstand sich damals wirklich als Antriebseinheit. Sie pflückte sogleich vom Baum der Erkenntnis einen Apfel und gab ihn dem faul im Gras liegenden Adam mit den Worten: "Da nimm und iß, damit Du erkennst, was Du an mir hast!" Sofort hatte Adam also ein Problem! Ja, das kennen wir doch alle: Wenn wir heutzutage mit den überfüllten Bahnen und Bussen zur Schule fahren müssen. Wir nennen das unten bei uns in der Elektrotechnik das Mengenproblem!

Doch Scherz beiseite.

Adam aß vom Apfel der Erkenntnis und er erkannte in Eva sich selbst, sich selbst in all seiner "Menschhaftigkeit", in all seiner "Menschlichkeit". Die Rippe der Bibel ist ein bildhaftes Gleichnis dafür. Er erkannte dieses einmalige Leben und er fühlte mit ihr Schmerz und Pein, Freude und Glück, Liebe und Leid. Zu der Erkenntnis kam also noch das Gefühl für den anderen Menschen und aus der Einsamkeit wurde Zweisamkeit! Ich erlebe das, wenn ich mit meiner Eva über die richtige Ordnung des schmutzigen Geschirrs im Geschirrspüler streite. Wenn ich mich dabei in meiner Würde als deutscher Ingenieur verletzt fühle, entfährt mir manchmal die tiefgründige Bemerkung eines alten Philosophen: "Ich denke, also bin ich!", worauf meine Eva mit schöner Regelmäßigkeit trotzig antwortet: "Ich fühle, also bin ich!". Wir einigen uns dann schließlich auf eine Symbiose, die da lautet:

"Denkend fühlen Wir und Fühlend denken Wir, also sind Wir!"

 worauf wir bald wieder sauberes Geschirr im Schrank haben.

Dieses Gefühl und dieser Impuls, für den anderen da zu sein, ihm beizustehen, Verantwortung für ihn zu übernehmen, ihn vor Gefahren zu schützen, ja selbst das eigene Leben einzusetzen, um das Leben des anderen zu schützen, ist der göttliche Impuls, der die zweite elementare Menschenwürde gründet. Und ein Staat, der diesen göttlichen Impuls, diese elementare Menschenwürde ignoriert, mißachtet oder sogar mit Strafe belegt, versündigt sich an der Würde des Menschen! Er wird zum Folterstaat! Er verliert seinen Anspruch, ein Rechtsstaat zu sein!

Nun blieben Adam und Eva nicht lange allein, ich sprach ja bereits darüber. Es entstanden Familien, Clans, Völker und Staaten. Es mussten nun Regeln her, die das menschliche Zusammenleben erträglich für den Einzelnen und die Gemeinschaft machten. Diese Regeln mussten einer ethischen und moralischen Grundhaltung folgen, die zum Beispiel bei uns im Grundgesetz durch die Menschenrechte beschrieben ist. Diese Menschenrechte richten sich an den beiden elementaren Menschenwürden aus, wie wir sie oben hergeleitet haben. Man kann sie deshalb als abgeleitete Menschenwürden bezeichnen, d.h. Menschenwürden, die Teilaspekte der beiden elementaren Menschenwürden beleuchten.

Sabine haben Sie eine Frage? Nein? Na, wir reden später darüber!

Ja, es ist spät geworden. Es wird gleich schellen. Doch bevor wir auseinander gehen, habe ich noch eine Bitte: Wenn Sie auf Ihrem Heimweg beim ZDF vorbeikommen, dann bitten Sie den Programmdirektor, die wunderschöne Perle der Opernliteratur "Don Pasquale" nicht nur im Theaterkanal, sondern auch einmal im Hauptprogramm zu senden. Jene feinsinnige Geschichte vom alten Don Pasquale, der seine heimlichen Sehnsüchte und Wünsche nach Liebe, Geborgenheit und Zweisamkeit noch im hohen Alter verwirklichen möchte. Dazu soll ihm Dottore Malatesta verhelfen. Doch dieser treibt mit ihm ein böses Spiel, um ihn vor einem Fehler zu bewahren. Norina, die verführerisch schöne und angeblich lieblich fügsame Klosterschülerin wird unter dem Namen Sofronia mit Don Pasquale scheinbar vermählt. Allein der melodische Name "So-fro-ni-a" erweckt in Don Pasquale das Gefühl paradiesischer Glückseeligkeit.  Doch kaum ist der "Bund fürs Leben" geschlossen, entpuppt sich "Sofronia" als kratzbürstiges, widerspenstiges Biest, um Don Pasquale von der Erfüllung seines Traumes abzuhalten. Es kommt zum Streit. Norina ohrfeigt Don Pasquale. Dieser ist zutiefst erschüttert. Und nun die Schlüsselszene menschlicher Würde in dieser so einfühlsam inszenierten Oper: Im gleichen Augenblick als Norina den Schmerz der Ohrfeige in ihrer eigenen Hand spürt, geht ruckartig in ihr die Erkenntnis über den Schmerz auf, den sie dem alten, bemitleidenswerten Don Pasquale zugefügt hat. Sie ist hin- und hergerissen vom Mitleid und der ursprünglichen Absicht. Sie kann sich zwar noch nicht entschließen, das böse Spiel sogleich zu beenden, doch wird ihr weiteres Verhalten merklich von ihrem Mitleid geprägt. Don Pasquale verzichtet schließlich und gibt Norina frei. Diese fällt ihm vor Freude in die Arme, er küsst ihr galant die Hand und beide wandeln Arm in Arm durch den Garten. Sie tröstet ihn mit einer zauberhaften Arie, die ihm die Erfüllung seiner Sehnsüchte verspricht, jedoch auf eine andere, eine angemessene Art.

Diese herrliche Oper mit der Musik von Gaetano Donizetti wird exellent gesungen, einfühlsam gespielt, ja eindringlich gelebt von Reri Grist als Norina, Oskar Czervenka als Don Pasquale, Hermann Prey als Dottore Malatesta, Luigi Alva als Ernesto und Flory Jacobi als Eulalia.

Aus Begeisterung für die paradiesisch schöne, leichtfüßig tänzerisch agierende und jubilierende Reri Grist nenne ich die freundliche Stimme , die mich in meinem neuen Passat hinaufleitet in den kühlen, klaren Norden zu den Leuchttürmen des Lebens:

                                                      So-fro-ni-a

Es hat geschellt.

Zieht die Vorhänge auf! Lasst Licht herein!

Macht Euch auf den Weg!
 

 

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