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Vom Opfertod

 

Einst waren die Menschen der Natur noch sehr nah und lebten mit ihr im Einklang der Jahreszeiten, der Gefühle und schicksalshafter Wendungen. Sie opferten ihren Geistern und Göttern aus Dank für Errettung aus Not und Elend. Sie opferten ihnen das Liebste, was sie hatten, um sie gnädig zu stimmen. Sie opferten ihnen ihre Nahrung, ihre Tiere und ihr Leben. Ja, sie opferten sogar ihren erstgeborenen Sohn als Zeichen der Hingabe und Verehrung, bis endlich der Erzengel Gabriel von Gott gesandt wurde und dem Opfer des Abrahams Einhalt gebot. "Gott bedarf Deines Opfers nicht!" so der gebieterische Engel. "Gott allein schenkt das Leben und nimmt es auch! Er allein ist Herr über Leben und Tod!"

Allein ein Volk, weit im Westen, diente weiter seinem Götzen Moloch und opferte ihm vor jedem Kriegszug und jeder Kauffahrt zur See erstgeborene Kinder der besten Familien.

Dumpf dröhnen die Trommeln. Posaunen ertönen dem Idol zu Ehren. Im großen, fröhlichen Festzug führen die Weisen und Priester des heiligen Grals die weiß gekleideten Opfer hinauf zum festlich geschmückten Altar.  Rhytmisch stampfend bewegt sich die Masse in immer rasenderem Tempo um den heiligen Ort. "Moloch heil!", " Moloch heil!" skandieren sie und entfernt hört man den erstickenden Todesschrei des Opfers, wenn der Priester ihm das pulsierende Herz aus dem Leibe reißt und es in den weit aufgerissenen Rachen des Molochs wirft.

Da entsteht Unruhe unter den tanzenden und schwitzenden Dienern des Götzen. Wispernd und flüsternd erst geht die Kunde von Ohr zu Ohr, bis sie sich in einem Aufschrei des Entsetzens Bahn bricht. Unerhörtes, ja Gotteslästerliche ist geschehen: Das Opfer, das gerade dem Moloch gewidmet wurde, ist nicht das erstgeborene Kind des höchsten Priesters. Es ist das gekaufte Kind einer armen Sklavin! Chaos und Aufstand toben durch die Gassen. Angst und Entsetzen breitet sich vor der Rache des Molochs aus. Nur mit Mühe gelingt es den Weisen und Priestern, das Volk mit dem Versprechen eines weitaus gößeren Opfers zu beruhigen.  Am nächsten Tag schon ziehen 200 weiß gekleidete Kinder an der Hand ihrer Priester  hinauf zum Gral, zum nimmersatten Moloch.

Das hört ein Volk, am gleichen Meer gelegen, gebildet und diszipliniert. Der Hellenen Schriften haben sie gelesen, Schriften von Sokrates und Aristoteles. Es ist entsetzt über solch ein archaisches Gebaren, das dem aufgeklärten Zeitgeist widerspricht und zerschlägt den Spuk mit eiserner Faust. Der Geist des Molochs aber schwebt seitdem über uns zur Mahnung und Warnung vor der eigenen Verblendung, der Überheblichkeit des eigenen Denkens und zum Schutz des unschuldigen Opfers!

Weitaus später, in unserer Zeit, gehen die Weisen und Gelehrten eines Volkers daran, nach einer mit Schuld und Tränen überladenen Katastrophe unerhörten Ausmaßes aus dem Schutt und aus der Asche einen Tempel mit starken Mauern und Pfeilern zu bauen, einen Tempel mit weitausladendem Dach, mit starken Balken und Sparren. Sie bauen ihn nicht in der Ebene, sie bauen ihn hoch oben, weithin sichtbar, damit jeder, der  ihn sehe, sich in seinem Schutze geborgen fühle. Sie haben Sorge, dass jeder, der zu ihm hinaufgelangt,  ihn verändern könnte und belegen zum Schutz zwei Drittel der engen Stiege, die hinaufführt, mit dem Dornengestrüpp der steinigen Straßen. Selbst den Priestern des heiligen Grals ist es verboten, den Tempel zu besteigen, um ihn zu verändern. Sie können nur am Fuße der Stiege stehen und den Gläubigen und Bedrängten Geheimnisse des Tempels offenbaren und ihnen so Hilfe gewähren. Das Volk steht und staunt über das gelungene Werk und beglückt fährt es in seinem Tagwerk fort.

Mit der Zeit jedoch verblasst der Glanz der ersten Jahre. Die Priester werden alt und neue Priester erscheinen, die das heilige Begehren der ersten Tage des Tempelbaus nicht miterlebten. Sie gefallen sich in weitauslegenden Epen, um die Gläubigen zu beeindrucken.

Da erscheint eines Tages ein finsterer Geselle und tritt hinzu zur Gruppe der eifrig betenden und diskutierenden Priester: "Ich weiß von Eurer Trübsal! Ich kann Euch helfen! Ich bringe Euch ein Opfer, das Ihr dem Volke zeigen könnt, Euch zum Lob und auch zur Ehre! Ich habe nur eine Bedingung: Ihr müsst mich schützen, damit ich nicht den Tempeldienern in dunkler Nacht anheim falle!" Und weiter fügt er hinzu: "Ich bereite das Opfer so vor, dass Ihr Euch nicht zu beschmutzen braucht!"

Gesagt, getan. Nach kurzer Überlegung machen sich die Priester über einen geheimen Gang hinauf zum Tempel und entreißen ihm zwei starke Balken des schützenden Daches, so dass es windschief fast in sich zusammensackt. Im matten Schein ihrer Laternen lesen sie die Bauanweisung der einstigen Zimmerleute: "Menschenwürde" und "Folterverbot". Sie eilen flugs hinunter und basteln dem Opferknecht eine dicht umschließende, sichere Rüstung.

Zwei Tempeldiener stehen leise diskutierend und debattierend an der Stiege zum Tempel, scharf nach Frevlern Ausschau haltend. Sie sprechen von Sokrates, Aristoteless, von Menschenwürde und Menschenpein. Sie haben Zuckmayer, Saint-Exupéry und Montesquieu gelesen und staunen, welch tiefgreifende Gedanken die Menschheit schon seit Jahrtausenden beschäftigen. Sie sprechen auch von der Sorge einer Nachbarin, die ihren Sohn Jakob vermißt. Sie haben ihr versprechen müssen, nach ihm zu suchen. Da,  ein Schatten! Er will an ihnen vorbeihuschen. Sie schnappen ihn, halten den sich Sträubenden fest und öffnen schließlich mit Gewalt seine ihn dicht umschließende Rüstung. Sie erschaudern. Schlaff und leblos liegt auch darin der Körper des kleinen Jakobs, die Augen wie um Hilfe flehend gen Himmel gerichtet. Der nette, kleine, freundliche Jakob aus der Nachbarschaft! Der mit den hellen, blauen Augen, den blonden Haaren und den etwas zu großen Zähnen! Zitternd vor Pein und Not rufen sie die Priester. Diese fahren erschreckt zurück, als sie erkennen müssen, welch ein Opfer ihnen gebracht werden sollte. Doch sie fassen sich schnell, weil sie erkennen, dass Jakob schon tot ist. Sie haben mit dieser Tragödie nichts zu tun! Sie waschen ihre Hände in Unschuld.

Am nächsten Morgen versammelt sich das Volk am Tempel und schreit Zeter und Mordio. Das Dach des Tempels sei beschädigt, rufen sie, ihr Schutz sei ihnen genommen. Da zeigen die Priester auf die beiden Tempeldiener. "Diese da, diese beiden waren es!" entfährt es ihnen. Man schnappt die beiden, stellt sie an den Pranger und jeder, der vorbeikommt, darf seine Notdurft an ihnen verrichten. Die Menge tanzt um die schließlich am Boden Liegenden herum und ruft und johlt und lacht und klatscht:

"Menschenwürde, Folterknechte, Menschenwürde, Folterknechte!"

Nur ein kleines Vögelchen sitzt mit einigen anderen traurig auf dem windschiefen Dach des Tempels, traurig über all den Unrat, der sich so schnell angesammelt hat, und es möchte doch eigentlich an diesem herrlichen Sommermorgen hell aufjauchzend in die aufgehende Sonne jubilieren. Seine Kehle schnürt sich zu und es beginnt leise jenes Lied in sich hinein zu zirpsen, das das einmal fröhliche Volk noch unlängst inniglich gesungen hatte, als die große Mauer eingerissen wurde, die Mauer, die den Blick auf die Morgensonne so sehr verdüsterte:

"Einigkeit und Recht und Freiheit ... 

 

 

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