Startseite ->  Jakob -> Übersicht

 

Eine eMail

 

Sehr geehrter Prof. Dr. Volker Erb!

 

Als normaler, juristisch nicht vorbelasteter Bürger habe ich Ihren Artikel "Nicht Folter, sondern Nothilfe" (Die Zeit, Nr. 51, 9. Dezember 2004, Seite 15) schon vor dem Urteil des Frankfurter Landgerichtes gelesen und gehofft, dass Ihre Gedankengänge hilfreich für die Urteilsfindung des Gerichts sein würden. Sie können sich sicher denken, welch eine Enttäuschung ich empfunden habe, als zwar ein mildes Urteil, aber doch eine Verurteilung erging, die die Strafbarkeit des Handelns der Angeklagten postulierte. Meiner Empörung habe ich in einem offenen Brief auf meiner Homepage Ausdruck verliehen. Dazu muss ich bemerken, dass meine Homepage eigentlich nur meinem Hobby, der Fotografie, als pensionierter Lehrer dienen sollte.

 

Nun gut. Die öffentliche Diskussion nach der Urteilsverkündung  trieb meine innere Erregung so weit, dass ich immer wieder neue Texte einstellte, um meine Betroffenheit zu artikulieren.

 

Ich war jetzt zwei Tage ganz alleine auf Sylt, um in langen und weiten Strandwanderungen meine Gedanken zu ordnen und für mich einen Ausweg aus dem offensichtlichen Dilemma der Diskussion zu finden. Es stehen hier  zwei Prinzipien unversöhnlich gegenüber:

 

1. Die Gewissensentscheidung des einzelnen Polizeibeamten und

2. das absolute Folterverbot.

 

Welches Prinzip hat Vorrang?

Wie kann der Vorrang begründet werden?

 

Was mich bei den Diskussionen immer wieder wunderte war, dass das Recht auf Leben des kleinen Jakob von Metzler kaum noch eine Rolle spielte, obwohl im Grundgesetz doch gerade dieser Aspekt nach der unsäglichen Vergangenheit Deutschlands eine große Rolle spielt. Andererseits hätte ein Freispruch in der Weltöffentlichkeit großes Aufsehen erregt, da Deutschland wieder als Folterstaat gebrandmarkt worden wäre, und das in einer Zeit, in der die Weltöffentlichkeit für dieses Problem außerordentlich sensibilisiert ist.

 

Nun abgesehen von der Außenwirkung müssen wir unsere Hausaufgaben erst einmal hier bei uns machen, und da sollten wir bei der Menschenwürde anfangen, da beide Seiten diese für sich beanspruchen. Im Text

"Eine Lehrstunde"

habe ich versucht, die Menschenwürde so zu definieren, wie ich sie jetzt verstehe. Da ist die Grundlage menschlicher Würde nicht nur das Recht auf Leben, was im Bereich der Justiz als Notwehrrecht beschrieben ist, sondern auch das Recht auf Schutz des Lebens des Nächsten, das ich nun wiederum als Nothilfe erkenne, wenn ich Ihren aufschlussreichen Artikel richtig begriffen habe. Haben wir aber ein Menschenrecht auf Schutz des Lebens des Nächsten, dann steht dieses Recht allen Menschen zu und darf nicht partiell ausgehebelt werden. Das heißt in unserem Falle, dass dieses Recht des Herrn Daschner und seines Hauptkommissars Ortwin E. nicht durch das Gesetz zum Folterverbot obsolet werden darf. Dadurch kehrt sich die Sachlage um: Nicht wir, das Volk, müssen hinnehmen, das Jakob von Metzler wegen des Folterverbotes geopfert wird und stirbt, sondern der Staat muss hinnehmen, dass Polizeibeamte von ihrem Menschenrecht Gebrauch machen und Jakob retten, es sei denn, er, der Staat,  lässt die Vernehmung des Herrn Gäfgen durch Automaten durchführen.  Doch selbst da könnte der menschliche Operator, der den Vernehmungsautomaten bedient, sein Menschenrecht auf Schutz des Lebens des kleinen Jakob von Metzler einfordern. 

 

Wie steht es nun mit der Menschenwürde des Herrn Gäfgen? Hat er nicht Anspruch auf körperliche und geistige Unversehrtheit? Unsere Solidargemeinschaft sichert ihm das grundgesetzlich wie jedem anderen Menschen doch auch zu! Sicher, doch die Solidargemeinschaft erwartet dafür im Gegenzug solidarisches Verhalten den anderen Mitgliedern gegenüber. Anders lässt sich auf Dauer der Konsens unserer modernen, rechtlich geformten Gemeinschaft nicht aufrecht erhalten, andernfalls würde sie wieder in das archaische "Auge um Auge, Zahn um Zahn" zurückfallen. Hier muss man auf die Verantwortung des Herrn Gäfgen für sein eigenes Leben und für das der anderen Mitglieder der Solidargemeinschaft hinweisen. Ich erwähnte diese Verantwortung bereits bei der Definition der beiden elementaren Menschenwürden. Herr Gäfgen kann nicht gleichsam wie in einer kristallenen Kugel unantastbar über dem Geschehen schweben. Er muss es hinnehmen, daß ihm beim Versuch, Jakobs Leben zu retten, geholfen wird, über die Hemmschwelle seiner Scham vor der eigenen Schuld, der Erkenntnis seines Verhaltens und seines Trotzes zu gehen. Diese Hilfe kann durchaus auch schmerzhaft sein. Schmerz ist ein Element unseres Lebens. Niemand kann sich ihm entziehen. Doch er ist vorübergehend. Das Leben des kleinen Jakobs aber gibt es nur einmal, ein einziges Mal!

 

Sehr geehrter Herr Professor Erb,

 

Ihr Kollege, Herr Professor Bernhard Schlink,  hat in einem sehr lesenswerten und bedenkenswerten Atikel "An der Grenze des Rechts" ( Der Spiegel, 3/2005, Seite 34) die ganze Problematik an der Grenze von Moral und Recht aufgezeigt. Leider verfällt er wie viele Juristen auch in Stereotypen wie etwa "Folter" und  "Verrechnung von Leben". Mir zeigt das, dass viele Juristen es nicht schaffen, wertneutral zu denken und zu argumentieren. Ihr Denkmuster ist zu sehr von Schuld und Sühne geprägt und von der Vorstellung, dass unsere Erkenntnisfähigkeit und damit unsere Handlungsfähigkeit unbeschränkt ist. "Hilfe" statt "Folter", auch wenn diese Hilfe schmerzhaft ist, "Güterabwägung" statt "Verrechnung von Leben", das sofort im Hinterkopf das "Auge um Auge, Zahn um Zahn" entstehen lässt, wären die Begriffe, um die man sich bemühen sollte.

 

Und noch etwas anderes fällt mir in seinem Artikel auf:  Er erkennt zwar richtig die Grenzen der Justiz an der Nahtstelle von Recht und Moral, doch die Konsequenz aus diesem Mangel zieht er nicht. Er schiebt die Verantwortung hierfür den agierenden Personen zu, also in unserem Fall dem Herrn Daschner und seinem Hauptkommissar Ortwin E. "Es ist zwar bedauerlich, aber so ist nun mal unser Recht" ist sein Resümee. Er lässt die beiden Polizeibeamten allein, allein ohne den Beistand unserer Solidargemeinschaft. Ganz schlimm wird es in seinem Beispiel vom Tornadapiloten, der einen von Gangstern gekaperten Airbus verfolgt, von dem man annimmt, dass er in ein Bürohochhaus mit  über 2000 Menschen gelenkt werden soll. Professor Schlink überlässt es schließlich dem Gewissen des Tornadopiloten zu entscheiden, ob der Airbus abgeschossen werden muss. Doch anschließend muss sich der Tornadopilot gerichtlich verantworten, und zwar mit allen Konsequenzen!

 

Ist das die Scham vor der eigenen Erkenntnis, die Scham vor dem eigenen Unvermögen? Warum gestehen wir es uns nicht einfach ein, dass auch die Erkenntnisfähigkeit unserer Justiz beschränkt ist, dass unser Handeln an Grenzen stößt, deren Verantwortung wir nicht dem Einzelnen zuschieben dürfen. Muss es unbedingt immer ein Urteil mit der Zuweisung von Schuld oder Unschuld geben? Können wir es uns nicht einfach in Demut eingestehen, dass wir überfordert sind?               

 

Wie diese Gedankengänge weiter ausgestaltet werden können und müssen, möchte ich den Fachleuten überlassen, da ich, wie gesagt, nur die Kompetenz eines pensionierten Lehrers habe.

 

Ich würde mich freuen, wieder von Ihnen zu hören.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Ihr Ulrich Perwass

 
 

Dazu auch:

 

Nicht Folter, sondern Nothilfe

von Prof. Dr. Volker Erb

 

Nach oben

Besucher aller Seiten in diesem Jahr:

Letzte Änderung:  21.10.2009 10:37:18   -  Copyright Ulrich Perwaß 1991/2007.    Alle Rechte vorbehalten